Begehren

Lust

Lust ist der Körper- und Bewusstseinszustand, der das Leben lebenswert macht, oder es wenigstens als lebenswert erscheinen lässt. Genau genommen ist die Lust das a priori Lebendige am Leben, weil alles Lebendige ihren Ursprung in der Lust sucht und findet. Auf dem Hintergrund der Langeweile, gemischt mit der Melancholie, auf dem das alltägliche Leben sich für gewöhnlich abspielt, bildet die Lust den hellsten Fleck der Existenzlandschaft. Sie steht für die Sonne, die wärmt, nährt, wachsen und reifen lässt. Die Sonne, die erhellt und veredelt. Die Lust ist keinesfalls mit Gott zu verwechseln: Gott ist eine unnatürliche Erscheinung, ein menschliches und damit kulturelles Konstrukt, ein Wort, ein Begriff, der alles und nichts meint. Ähnlich steht es mit der Sexualität und sogar mit der Erotik, die auch eine Erfindung der Zivilisation ist, wenn auch höchstwahrscheinlich die schönste. Die Lust hat mit der Erotik aber nur insofern zu tun, dass Erotik, wie alles andere auch, in der Lust erwacht und aus der Lust entsteht.

Die Lust ist unmittelbar und bedingungslos. Tiere haben nicht auf Menschen gewartet, damit diese ihnen die Lust beibringen. Im Unterschied zur Erotik verspüren Tiere ebenfalls Lust. Die Lust ist enger mit dem Begehren als mit der Erotik verwandt. Das Begehren und die Verführung resultieren ebenfalls aus der Lust. Auch wenn diese ersten Grundformen der Lust bilden, ist die Lust trotzdem das Ursprünglichste, das Allererste, das Grundlegendste aller Zustände, die lebendige Wesen empfinden. Wenn es jemals eine adäquate Religion geben könnte, dann wäre es eine, die auf der Lust basiert. Weil diese sowohl Gott als auch den Teufel, sowohl Atman als auch Brahman, sowohl Adam als auch Eva vertreten kann. Die Lust ist allgegenwärtig. Sie ist der perfekte Gottesersatz.

In der Kunst und in der Literatur, genauso wie in der Philosophie, Psychologie, Soziologie und anderen Wissenschaften, die alle als Pseudowissenschaften fungieren, wenn es auf eine Grundlegung der Existenz ankommt, wurde die Lust bisher eher vernachlässigt, und zwar, zu Unrecht. Es gibt Millionen Oden an die Liebe, Tausende Oden an den Sex und nur Wenige an den Eros (Hier denke ich vor allem an Platon, an Bataille und an Arsan). Jedoch kenne ich kaum eine Ode an die Lust, wahrscheinlich weil sie mit ihrer wilden Natur der Kultur – und damit auch der Literatur und der Philosophie – entgangen ist. Die Lust kann grausam und barbarisch sein. Vielleicht gerade darum gab es nur einen grossen Denker (von Sade abgesehen), der die Rolle der Lust in ihrer Tiefe erkannte. Das war Friedrich Nietzsche. Sein Gedicht „Alle Lust will Ewigkeit“ steht exemplarisch für die Tiefgründigkeit der Lust:

O Mensch! Gib acht!

Was spricht die tiefe Mitternacht?

“Ich schlief, ich schlief -,

Aus tiefem Traum bin ich erwacht: –

Die Welt ist tief,

Und tiefer als der Tag gedacht.

Tief ist ihr Weh -,

Lust – tiefer noch als Herzeleid:

Weh spricht: Vergeh!

Doch alle Lust will Ewigkeit -,

– will tiefe, tiefe Ewigkeit!”

Das Wort “tief” kommt hier in elf Zeilen acht Mal vor, was nur darauf hinweisen kann, dass es sich bei der Lust um den tiefgründigsten Körper- und Bewusstseinszustand handelt. Noch tiefer ist vielleicht nur der Tod, aber was können wir überhaupt über den Tod wissen?! Über die Lust dagegen – eine ganze Menge: wenn Freud im Anschluss an Nietzsche seine Kulturtheorie und Theorie der Sublimation entwirft, nennt er sie “Jenseits des Lustprinzips”. Und dass es hauptsächlich um die Verdrängung des Lust-Triebes handelt kann nur mit seiner puritanisch-jüdisch-orthodox-christlich-protestantischer Erziehung, und nicht zuletzt mit der Wiener Ausbildung zu tun haben. Auch wenn Freud der Lust sehr viel Aufmerksamkeit schenkt, schickt er sie schliesslich ins Exil, wo sie, abgesehen von wenigen Ausnahmen, bis ins 21. Jahrhundert eine ärmliche Existenz führt, als Forschungsobjekt für Artisten, die sich mit vulgären, pornographischen Themen befassen. […]

 

Elias Kirsche © Zürich, 2014

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